Das holographische Inferno

F. Giebichenstein

Nach dem großen Erfolg seiner Neuromancer-Trilogie ließ sich William Gibson mit seinem neuen Romanprojekt Virtuelles Licht Zeit. Stattdessen reiste er, schrieb für die amerikanischen Szene-Magazine Mondo 2000 und Wired Reiseberichte über Tokio und Singapur. Er besuchte jeden Kongress zwischen Wladiwostok und San Franzisco über Künstliche Intelligenz und Virtuelle Realität. Daneben arbeitete er noch am Drehbuch zu Alien III, veröffentlichte mit Bruce Sterling, dem Autor von Schismatrix, den historischen Roman die Die Differenzmaschine, der an die Geschichte von Charles Babbage (1792-1871) erinnert, dem Erfinder einer programmgesteuerten Rechenmaschine. Aus dem viktorianischen Zeitalter zurückgekehrt, begann Gibson schließlich mit Virtuelles Licht, seinem vielleicht letzten Science Fiction-Roman. Denn Gibson hat sich weiterentwickelt. Er will nicht länger Ideengeber sein für eine Merchandise-Industrie, die sich selbst ausschlachtet. Der Cyberspace-Kult ist im industriellen Mainstream versandet, das hat der Autor begriffen. Virtuelles Licht fand sich dennoch kurz nach Erscheinen auf den amerikanischen Bestenlisten wieder. Der über dreihundert Seiten lange Roman kann als Abrechnung mit unserer lebensfeindlichen Dekade verstanden werden. Hatten seine frühen Werke noch die Hoffnung auf eine anarchistische elektronische Subkultur, so rauscht Virtuelles Licht hinab in die perfiden Abgründe eine Hyperrealität, die grausamer und mörderischer kaum geschildert werden kann. Das Buch ist ein Endzeit-Öko-Thriller, angereichert mit den für Gibson typischen Versatzstücken aus Fiktion und Realität. Der Plot ist eher konventionell, doch die Geschichten sind in Gibsons Büchern ohnehin sekundär. Er erzählt Situationen aus dem Leben eines gescheiterten Ex-Polizisten, begibt sich dabei dicht in die Nähe zu den Underground-Cop-Stories von James Ellroy. Doch es ist das Jahr 2005 und der Planet ist ein Müllbiotop. Die Weltmeere sind zu lecken Ölteichen verkommen, Seuchen und Naturkatastrophen haben für den Rest gesorgt. Der Autor ist härter und pessimistischer geworden, für ihn ist dies nur eine logische Konsequenz seiner augenblicklichen Wahrnehmungen. Er schildert das Leben in den Großstädten Kaliforniens, doch ebenso könnte Berlin für San Franzisco und Lissabon für Los Angeles stehen. Gibson präsentiert ein ausgemendeltes Bild einer nahen Zukunft, das sich schon in unseren Tagen abzeichnet. Die soziale Segmentierung ist längst abgeschlossen, die Besitzenden leben im Verborgenen, getarnt in unabhängigen Strichcodebunkern, die selbst die eigene Scheiße recyceln und aufbereiten können. Das Eigentum wird bewacht von korrupten Sicherheits-Dienstleistern, die den noch korrupteren Administrationen zuarbeiten. Satelliten im Orbit, Datennetze und Videosysteme ermöglichen die totale Überwachung. Aufruhr und Rebellion werden mit waffenstarrenden Kampfhelikoptern bekämpft, es bleibt nur noch Asche und Resignation. Verfassung und Justiz sind zu banalen Gameshow-Parodien verkommen, nur wer es auf den Fernsehschirm schafft, hat für wenige Augenblicke Bedeutung. Die Medien sind hypertrophe Organe, aus ihren über dreihundert Fernsehkanälen gospelt das Ende der Moderne. Hardcore-Pornos in Form von Hologrammen, Videosekten, Gangs jeder Couleur, religiöse Fanatiker, Talkshows lähmen die Gehirne der Menschen. Die Sprache des neuen Jahrhunderts produziert nur noch Leere. Die Armut ist verheerend,. das Bewusstsein der meisten ist überfüttert durch synthetische Designerdrogen wie Ice oder Dancer. LSD, PCP oder Kokain wirken gegen diese Substanzen wie Beruhigungspillen aus dem Reformhaus. Das limbische System ist nur noch ein Affektsystem. Jeder ist bewaffnet, sei es nur mit einem Schlagstock der Peperonigas ausstößt. Gibsons Figuren irren einsam durch diese fraktale Kulisse des okkulten Firlefanzes und holographischen Siechtums. Das Leben des Einzelnen bedeutet in dieser Welt nichts, bleibt aber zugleich das einzige, was er besitzt. Sein Umfeld hat nur noch den Charakter der Bedrohung. Er lebt zoomorph, beschränkt auf niedere Instinkte, reduziert auf die primitivsten Überlebensriten. Doch selbst dies stellt Gibson in Frage. Denn die Heimat der überwiegenden Mehrheit der Menschen sind Ghettolandstiche und Abfallsiedlungen, über denen eine Aura der Fäulnis schwebt.Der Autor beschreibt eine todbringende Variante der postmodernen Trash-Kultur, wie sie in der Geschichte der Science-Fiction-Literatur seines gleichen sucht. Sieht man von der starren chronologischen Abfolge seiner Geschichte einmal ab, so entstehen im Geist des Lesers riesige, dreidimensionale Giger-Bilder, deren visionäre Kraft einen schaurigen Beigeschmack hinterlassen. Selbst Gibsons Gewaltdarstellungen sind des öfteren von einer ambivalenten, befreienden Schönheit, die nur dazu dient den Wert des Lebens neu zu entdecken. Das Leben neu entdecken, den Paradigmenwechsel im Geiste zu vollziehen, das ist das eigentliche Anliegen seines Buches. Auch das Virtuelle Licht, im Buch dargestellt als Informationspool, als übermächtige, artifizielle Mailbox, wird keine wirkliche Rettung bringen. Gibson vermittelt eine Ahnung davon, was es heißt, einer Kultur des Todes zu harren.

William Gibson: Virtvelles Licht. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Robert.Rogner& Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1993, 326 Seiten