Der Urvater der Volkswirtschaftslehre, Adam Smith, schrieb in seinem Werk Theorie der moralischen Empfindungen: „Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist“. Respekt und Wohlwollen für den Anderen hielt Smith für die Grundlage der Moral und den inneren Antrieb zur Arbeit. Seine Ideen vom Wohlstand der Nationen, die auch immer den Wohlstand des Einzelnen bedeutet, sind heute lange überholt und weltweit korrumpiert. Das elementare Heilversprechen der Wirtschaft, das durch die Verfolgung privater Wirtschaftsinteressen auch immer das Gemeinwohl profitiert, hat sich als Trugschluss und Zerrbild erwiesen. Heute gilt eher der Satz des bedeutenden Ökonomen John Maynard Keynes, der feststellte: „ Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.” Smith und Keynes sind lange tot, ihre Ideen ebenso. Als Moralphilosoph wäre Smith sicher entsetzt. Er sähe heute schlimme Dinge. Der digitale Finanzkapitalismus hat aus den Gesellschaften plutokratische Oligarchien werden lassen, die Kriege um Ressourcen und Märkte sind voll entbrannt. Der „Schock-Kapitalismus“ und sein „brutales Konzept“, wie die kanadische Autorin Naomi Klein das nennt, ist mittlerweile in jedem Dorf angekommen. Überall feiert der „Turbokapitalismus“ (Helmut Schmidt) Siegeszüge und teilt die westliche Welt sozialpolitisch nach dem Muster Bagdads in „grüne“ und „rote“ Zonen. Laut dem UNO-Bevölkerungsprogramm UNFPA wird es ab 2008 erstmals auf der Erde mehr Stadtbewohner als Landbewohner geben. Der „Planetarisierungsstress“ (Peter Sloterdijk) hat jede Hütte erreicht. Ob ethnische oder soziale Segregation in westlichen Metropolen oder die Verwerfungen in vielen Teilen der dritten Welt, all das sind nur Blaupausen für kommende Erschütterungen. Die Brasilianisierung des Westens, wie der Soziologe Ulrich Beck diese Umwälzungen nennt, schreitet unaufhörlich voran. „Es wird immer deutlicher: Weniger persönlicher Reichtum als vielmehr die Konzentration von finanzieller Verfügungsmacht und massenpsychologischer Einflussmacht in relativ wenigen Händen entwickelt sich zu einer ernsten Gefahr für eine offene Gesellschaft.“ So schrieb Helmut Schmidt schon im Jahr 2003 in seinem bemerkenswerten Essay “Das Gesetz des Dschungels“. Was Jeremy Rifkin den Hyperkapitalismus nennt, gehört heute unvermeidbar zur Lebenswirklichkeit der meisten Menschen. Die totale Ökonomisierung von Lebensraum und Lebenswirklichkeit ist zu einem Zustand der permanenten Mobilmachung geworden. Der aus dieser Mobilmachung resultierende „flexible Mensch“ (Richard Sennett) lebt in einer Welt der totalen Unrast und der steten Veränderung, Die Hochgeschwindigkeit dieses digitalen Kapitalismus verwüstet die bestehende Ordnung und ruiniert die Sozialgemeinschaft. Für die meisten Menschen in diesen modernen „Arbeit- und Unglückswelten“ (Sloterdijk) existiert nur noch Gegenwart. Es gibt keine planbare Zukunft mehr, das Kommende birgt unkalkulierbare Risiken. Dieser beschleunigte „Drift“ (Sennett) wird durch das „ungeduldige Kapital“ (Brennett Harrison) verursacht. Der wahnhafte Glaube an an die schnellen Renditen und die maßlose Gier nach Expansion stellt die Prinzipien unserer Gesellschaften in Frage. Der Dramatiker Heiner Müller bezweifelte schon vor Jahren, das wir in einer Demokratie leben. Die Bundesrepublik war für ihn eine Oligarchie, in der „Wenige von den Vielen“ leben. Für den Eliteforscher Michael Hartmann gehören die Mächtigen der Wirtschaft einer elitären und geschlossenen Gesellschaft an. Der Hyperkapitalismus hat Strukturen geschaffen, die unaufhörlich eine „militante Unterklasse von Ausgegrenzten und Aussteigern, die das Tempo nicht mithalten können oder wollen“ (Peter Glotz) produziert. Die „Kulturkämpfe um die richtige Lebensführung“ (Glotz) sind in vollem Gange. Kritiker und Gegner dieser Survival of the Fittest -Welt werden von den Apologeten des radikalen Marktes oft als Antikapitalisten und Kommunisten denunziert. Diesem Unsinn hat der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl mit seinem Essay Das Gespenst des Kapitals nun ein Ende bereitet. In seinem Text werden die Strukturen des kapitalistischen Denkens über die Jahrhunderte bis heute entzaubert. Eine wahre Tour de force durch die Geschichte der Ökonomie. An Ende wartet die Erkenntnis, das „totalisierter Wettbewerb zum Verfall von Gesellschaften führt“. Und der Alp wird nicht enden. (fk)
Quentin Tarantinos totes Kino!
Schon Adorno wusste, das die Popkultur Massenbetrug ist und die Kulturindustrie das Publikum mit “trivialen, oberflächlichen Nichtigkeiten” abspeist. Das Filmregisseure wie Quentin Tarantino (Inglourious Basterds) heute als Maßstab cineastischen Ausdrucks gelten, ist ein Indiz dafür, das wir in der postdemokratischen Gesellschaft (Colin Crouch) angekommen sind. Quentin Tarantinos Filme sind postdemokratischer Eskapismus und sein massenkompatibles Effektkino wird vom hysterischen Blockbusterpublikum unserer Zeit kritiklos goutiert. Tarantinos Bilder sind reiner Bluff, seine emotional leeren Filme erzeugen einen Zustand geistloser Coolness, der in der ausgemendelten, kapitalistischen Effizienzwelt als hip gilt. Tarantino liefert Bilder wie Toyota Autos baut. Sein Erfolgsgeheimnis ist, dass er Inhalte und Substanz negiert und Tiefe verabscheut. Tarantino kann nicht tief, er lebt vom Niedergang der Kultur.
Die Bildsprache von Regisseuren wie Hitchcock, Kurosawa, Kubrick (Foto)oder Tarkowski ist dagegen wahrhaft genuin, denn sie werden von den Schätzen tausend Jahre alter Kulturen getragen. Tarantinos Bilder werden durch nichts getragen, er produziert visuellen Quaksprech (Orwell) und verliert sich in infantiler Regression. Sein Kino ist immer eklektisch. Er kannibalisiert, plündert und verhackstückt die Filmgeschichte gnadenlos. Als Kopist des Bestehenden wird er zum Totengräber der Filmkunst. Seine Filme sind nur Strandgut einer überhitzten und desorientierten Mediengesellschaft. Regisseuren wie David Lynch oder Peter Greenaway kann Tarantino nicht das Wasser reichen. Deren Substanz ist die Musik, Malerei und Literatur, sie schöpfen aus anderen Quellen. Tarantino hingegen entweiht das Kino, weil er im Kern banal ist. Aus der Banalität aber resultiert nichts anderes als die Unterdrückung der Massen durch Unterhaltung. Statt seelischer Erhebung oder Erkenntnis findet man bei Tarantino nur Destruktion und Stumpfsinn. Der eigentliche Skandal am neuen Film von Tarantino ist nicht, das er ein historisch ernsthaftes Thema wie den Nationalsozialismus als Kulisse für seine Unterhaltungsklamotte missbraucht, sondern das diese Kumpanei aus unzureichender Darstellungskunst und Amüsierfaschismus (Peter Sloterdijk) mit 6,8 Millionen Euro “stupid german money” vom Deutschen Filmförderfonds subventioniert wurde. Keinen Euro davon war der Film wert. (fk)
Gesichter einer Stadt
Schon die Fotografin Helga Paris setzte mit ihrem Bildband “Diva in Grau” der Stadt Halle ein fotografisches Denkmal. Diese Aufnahmen sind unvergessen und gehören zweifelsfrei zu den großen Schätzen der deutschen Fotografie. Einen ebenso großen und beachtlichen Wurf gelang der Fotografin und Künstlerin Ines Zimmermann. Ihr Bildband “Gesichter meiner Stadt” ist fotografisch ein absolutes Rarrisimum . Neben dem außerordentlich hohen dokumentarischen Wert des Bandes, ist es der Künstlerin gelungen, Fotografien von einzigartiger Tiefe und unverstellter Schönheit zu schaffen. Schon als Kind fotografierte die gebürtige Hallenserin ihre Stadt und begleitete über Jahre den städtebaulichen Wandel mit der Kamera. Vor allem das Verschwinden der historischen Bausubstanz interessierte die Fotografin. Die Vielzahl der Häuser und Bauten, die ihre Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen, existieren heute nicht mehr. Der oft willkürlich motivierte Abriß alter Fachwerkbauten hat das Gesicht der Stadt Halle unwiderruflich verändert. Der Fotografin ist es zu verdanken, daß mit ihren Aufnahmen eine Vorstellung des Vergangenen bewahrt wurde. Reizvoll ist auch die literarische Qualität der Aufnahmen. Die phantastische und dunkle Aura, die den Aufnahmen innewohnt, vermitteln einen starken Eindruck dessen, was fotografische Kunst in ihrer reinsten Form leisten kann. Bilder wie “Luckengasse (1993)” oder “Mansfelder Straße I bis 3 bei Nacht (1987)” erinnern an Meisterwerke eines Ed van de Elsken (Amsterdam, 1925) oder KarlHugo Schmölz (Blick vom Kölner Dom auf den Wallrafplatz, 1946) und stehen diesen an Ausdruckskraft in nichts nach. Über den Szenerien dieser Schwarz-Weiß-Aufnahmen liegt ein Schleier der Melancholie, der lang im Geiste des Betrachters nachwirkt. Die fotografische Großartigkeit dieser Bilder wird bleiben. Dem Mitteldeutschen Verlag gebührt Dank, daß er solche Bücher möglich macht. (fk)
Antichrist – Film von Lars von Trier
Lars von Trier hat keine guten Nachrichten. Gott ist tot, die Liebe ist eine Illusion, die Frauen sind teuflisch und die Natur ist böse. Es gibt keine Hoffnung, der Schrecken ist allgegenwärtig und am Ende wartet die totale Auslöschung. Wellness-Kino als Zeitvertreib hat von Trier nie gemacht. Sein Film Antichrist unternimmt den alchemistischen Versuch die Vergänglichkeit des Lebens zu besiegen. Ein Paar, das den Tod des eigenen Kindes betrauert, reist zur Krisenbewältigung in die Abgeschiedenheit einer Berghütte. Umgeben von Stille, dunklem Wald und allerlei Getier fallen beide dem Wahnsinn anheim. Lars von Trier zeigt das Innenleben seiner Protagonisten als unumkehrbare Transformation in ein sinnentleertes Dasein, das nur noch den Horror der Leere kennt. Charlotte Gainsbourgs (Foto) und Willem Dafoes Darstellungskunst gehen dabei weit über die routinierte und professionelle Schauspielerei hinaus. Die Versehrtheit der Figuren kann nicht besser gespielt werden. Von Triers Darstellung roher Sexualität und schockierender Gewalt sind in der Gesichte des Kinos nicht neu, man denke hier nur an Marco Ferreris Film L’ultima donna/La dernière femme von 1976, an dessen Schluss Gérard Depardieu sich selbst kastriert oder an Bertrand Bliers Film Les Valseuses von 1974, in dem sich Jeanne Moreau mit einem Schuss in den Unterleib selbst tötet. Die beunruhigende Trostlosigkeit des Films erinnert gelegentlich an Twentynine Palms von Bruno Dumont. Von Trier geht allerdings einen Schritt weiter. Er schickt den Zuschauer in ein gnadenloses Purgatorium ohne Aussicht auf Erlösung oder Gnade. Für von Trier sind Menschen armselige Geschöpfe, die einsamen Tieren gleich durch eine öde Welt streifen. Das von Trier Strindberg, Nietzsche und Andrei Tarkowski bewundert, merkt man dem Film in jeder Szene an. Antichrist ist weder Schockkino noch Horrorfilm, es ist von Triers aussichtsloser Versuch, die Angst des Menschen vor dem Tod zu sublimieren. Doch der Katholik von Trier weiß auch, das wir nicht entkommen können. Chaos regiert! (fk)
Andreas Feininger – New York
Für den Dichter Walt Whitman (Foto) war New York die “Große Stadt“, für den Fotografen Andreas Feininger war New York eine Art ultimative Heimfahrt. Die eindrucksvollsten Fotografien seines Lebens machte Feininger in der Hauptstadt der Welt. Am Bauhaus in Weimar und Dessau zum Architekten ausgebildet, war Feininger als Fotograf eher Autodidakt. Bis auf den Besuch eines Fotografie-Lehrganges in Dessau eignete sich Feiniger die Technik des Fotografierens selber an. Und der Mann langer Brennweiten brachte es in seiner Disziplin sehr weit. Unter Verwendung teilweise selbst konstruierter Technik überließ der Fotograf nichts dem Zufall. Alle seine Fotografien sind konzeptionell strukturierte und komponierte Meisterwerke, speziell seine Architekturaufnahmen. Als er 1939 nach New York kam war die Stadt noch einer der verheißungsvollsten Orte der Welt. Unter den wenigen Metropolen der Welt war New York unerreichbare Königin. Seine im Nebel liegende Freiheitsstatue, sein aus kilometerweiter Entfernung aufgenommenes Empire State Building oder sein kontrastreicher Blick auf Lower Manhattan sind zu zeitlosen Meisterwerken der Fotografie geworden. Feininger war in der Fotografie nicht so sehr an Menschen interessiert, es waren eher die Werke der Menschen und deren Wirkungen. Die von Menschen gemachte Natur in seiner Form und Struktur beschäftigten ihn zeitlebens. “Wahrheit und Klarheit der Darstellung ist eine der Haupteigenschaften aller meiner Fotos“, sagte er über seine Arbeit. Die Kritik an ihm als “gefühllosen, kalten Gehirnmenschen” wies er von sich. Seine New Yorker Stadtaufnahmen aus den dreißger und vierziger Jahren zählen zu den großen Schätzen, die Fotokunst je hervorgebracht hat. Ende der achtziger Jahre hat Feininger im hohen Alter die Türme des World Trade Center fotografiert. Die neue Architektur der Stadt hielt er für “sauber,brutal und unmenschlich leistungsfähig“. Es ist die gleiche Unmenschlichkeit wie sie in vielen anderen Metropolen der Welt entsteht. Ob in Dubai oder Shanghai, allerorten wuchert lebensfeindliche Geschmacklosigkeit in den Himmel. Die Schönheit der alten Epoche ist für immer verschwunden, aber die Königin der Metropolen und Andreas Feiningers Fotografien werden auch das überleben. Die Ausstellung “Andreas Feininger – New York in the Forties” ist noch bis zum 18. Mai 2009 im Bauhaus-Archiv in Berlin zu sehen. (fk)
80 Jahre Müllermaschine
Im Januar 2009 wäre Heiner Müller (Foto) 80 Jahre geworden. Die anhaltende geistige Präsenz des Dichters und Dramatikers ist nicht nur als mediales Phänomen zu erklären. Die Anziehungskraft Müllers ergibt sich weder nur aus seinen Stücken noch aus seinen Gedichten. Zweifelsfrei wird davon auch viel bleiben, doch das Wesentliche seiner Wirkung speist sich aus der geistigen Freiheit seiner Gedanken. Für Müller war geistige Freiheit ein Geburtsrecht und die Welt nur Material. So analysierte und kommentierte er die Zustände ohne Rücksicht auf Verluste. Er war den bürokratischen und technokratischen Eliten in Deutschland ein Dorn im Auge. Seine fundamentale Kritik am System des Westens ärgert deren Vertreter bis heute. Die Freiheit des Westens war für Müller nur eine Simulation. Aber auch das Rußland Stalins und die untergegangenen Satellitenstaaten waren für ihn nur Material. Was das Leben in der DDR betraf, hatte er ebenfalls keine Illusionen. Über die in der DDR beliebten Plattenbauten sprach Müller von “beheizten Fickzellen“, den Mauerfall kommentierte er lapidar mit dem Satz “Zehn Deutsche sind dümmer als fünf“. Er kannte die Öde und Tristesse der Arbeiter- und Bauerndiktatur. Von den meisten Protagonisten des ostdeutschen Staates hielt der Dichter Müller nichts, dennoch war ihm Cottbus näher als Kalifornien. Den Zusammenbruch des Sowjetimperiums sah er als letzten Akt eines noch nicht geschriebenen Stückes. Nach 1989 gab es für Müller noch nur Gegenwart, die Zukunft war abgeschafft. Wenn den “Arbeitern die Hummersuppe zu den Ohren rauskommt, hat der Sozialismus eine Chance“, so Müller. Wenn er provozierend äußerte, das Wagner der Erfinder der Filmmusik sei, so war das seine Art auszudrücken, das der heutige Kulturbetrieb nur Schwindel ist. Einen Zirkusbesuch hielt der Dramatiker sogar für anregender als das zeitgenössische Theater. Für seine spöttischen Sozialismen wurde er von seinen Kritikern gehasst. Im Westen empfand er Ekel für die “Unschuld“, die die Leute in den Fußgängerzonen ausstrahlten. In den Schnellrestaurants sah er einen neuen Menschentypus sitzen, der “freiwillig Scheiße frißt“. Der “trübe Menschenbrei” machte ihm schwer zu schaffen und überall sah er “glückliche Idioten vor den Bildschirmen“. Hoffnung war für ihn nur der Mangel an Information und Heimat ist heute nur dort, wo die Rechnungen hinkommen. Seine vernichtende und ätzende Kapitalismuskritik trieb vielen Vertretern desselben vor Wur die Zornesröte ins Gesicht. Eine Aussage wie “Die Arbeitslosigkeit geht durchs Land wie ein neues Regime der Furcht, das keine Stasi braucht, um die Menschen einzuschüchtern.” passte nicht in die politisch korrekte Landschaft. All das, was uns heute beschäftigt, hat Müller schon in den frühen Neunzigern kommen sehen. Der klein gewachsene Mann, den die Frauen mochten, lag in vielen Dingen richtig. Sein sarkastischer Kulturpessimismus war auch immer von treffsicherer Hellsichtigkeit erfüllt. Der Skandal des Todes ist ihm früh begegnet. Bleiben werden die Summe seiner Interviews und einige seiner Gedichte. Seine ozeanischen Horizonte und assoziativen Gedankenwelten sind zeitlos. Einer wie Müller fehlt Deutschland heute schmerzlich. Eine fertige Werkausgabe gibt es bei Suhrkamp. In einem seiner Stücke heißt es zum Ende hin: “Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel!”. (fk)
Das Ende der Landschaft
Die Hybris des Menschen ist sein Thema. Der amerikanische Fotograf Alex MacLean gibt mit seinen Bildergeschichten der Fotografie die Seele zurück. Nach eigener Aussage interessiert den leidenschaftlichen Piloten und Abenteurer an der Fotografie die unterbewusste Information. Sein Bildband “Over – Der American Way of Life oder: Das Ende der Landschaft” transportiert schockierende Botschaften. McLean fotografierte seit über 30 Jahren die USA aus der Luft. Dabei sind ihm Bilder von eindrucksvoller Zerstörungskraft gelungen. Die destruktiven Folgen menschlicher Ausdehnung und die ungeheuerliche Anmaßung des Menschen gegenüber der Natur hat McLean in bemerkenswert unprätentiösen Bildern festgehalten. Seine Bilder haben wirklich Kraft und sind zugleich schauerlich bizarr. McLean sieht sich selbst nicht als ökologischen Mahner oder Botschafter des Unterganges. Er zeigt die gnadenlose Naturzerstörung und die grenzenlose Verschwendung von Ressourcen. Expansive Urbanität, ungezügelter Mobilitätswahn und Energieverschwendung führen unweigerlich zum Kollaps. McLean weiß das. Er hat es für uns gesehen und dokumentiert. (fk)
Zeit und Tod
Schon der französische Soziologe und Philosoph Paul Virilio versuchte zu Beginn der Achtziger Jahre in zahlreichen Schriften die Bedeutung der Geschwindigkeit und deren Auswirkungen auf die modernen Gesellschaften zu erforschen. Was Virilo, der den Begriff der Dromologie erfand, später als Zustand des rasenden Stillstandes beschrieb, kann man heute als wesentlichen Bestandteil der Zeitforschung ansehen. Der Zeitforscher und Soziologe Hartmut Rosa hat in seinen Buch “Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” erstmals eine Zeittheorie entwickelt, die umfassend und plausibel erklärt, weshalb und warum die moderne, beschleunigte Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist. Rosa weiß, das wir “die Affen eines kalten Gottes” (Marx) sind und daß das, was er Beschleunigung nennt, alles “Stehende und Ständische verdampfen“ (Marx) läßt. Der Wachstums- und Beschleunigungszwang des kollektiven Kapitalismus ist zu einer unabänderlichen Tatsache geworden, die zwanghaften Logiken des Marktes haben jegliche Ethik des Wirtschaftens ruiniert. Was Rosa “Akzelerationsdynamik” nennt, beschreibt die fatalen Folgen für das Leben in beschleunigten Gesellschaften. Die Raserei erreicht alle Bereiche des Lebens. Wirtschaft wird nach den Prinzipien der organisierten Kriminalität strukturiert, der soziale Kosmos erodiert und der stetig anwachsende Beschleunigungsdruck deformiert den Charakter der Menschen. Rosa weiß, das die Beschleunigung nicht zu bremsen und zu balancieren ist. Die Gesetze der Beschleunigung kennen keine Ordnung. Den Urtrieb der Beschleunigung sieht Rosa in der Angst des Menschen vor dem Tod. Die Panik vor diesem größten aller “Optionenvernichter” treibt den Menschen gnadenlos um. Alles Unheil dieser Welt resultiert aus dieser Panik. Um sich dieser Erkenntnis zu entziehen, schlüpft der Mensch in die Rolle des Spielers oder Drifters, ohne eigene Identität und dem Bestehenden hoffnungslos ausgeliefert. Wer nicht mitspielt wird schnell zum Exkludierten, zum Störfaktor. Was der Soziologe Jeremy Rifkin das proteische Bewußtsein nannte, wird in der beschleunigten Welt zum Status quo. Die proteische Persönlichkeit kennt keine Wahrheiten mehr, Empathie in jeglicher Form ist ihr zuwider, alles ist relativ und nichts ist wahr. Entwicklungen wie Hikikomori oder Cocooning sind nur der Prolog für das anbrechende Zeitalter des neuen Maschinen- und Ochsenmenschen, der unablässig an der eigenen Auslöschung arbeitet. Für Rosa ist der Abstieg unaufhaltsam, zu mächtig und gewaltig ist die Dynamik der Beschleunigung. Vom Dichter T.S. Eliot stammt der Gedanke, das die Welt nicht mit einem Knall endet, sondern mit einem Wimmern. Nach der Lektüre von Beschleunigung ist dieses Dichterwort zur Gewißheit geworden. (f)
Alptraum China
Statt sich diese heuchlerischen Olympischen Spiele anzuschauen, sollte man sich die Fotografien von Andreas Seibart ansehen. Der Fotograf hat die elende Existenzfristung der chinesischen Wanderarbeiter in unerhört ausdrucksstarken Bildern verewigt. Die Fotografien zeigen viele der namenlosen und geschundenen Arbeitsnomaden, die in China tagtäglich unterwegs sind und auf Teilhabe und den sozialen Aufstieg hoffen. Vor allem die bittere Armut der Kinder haben den Fotografen sichtbar erschüttert. Ein Bildband der Werke ist im Handel erhältlich. From Somewhere to Nowhere – China´s Internal Migrants (f)
Fotokunst von Michael Najjar
Michael Najjar schuf mit den Bildreihen netropolis und bionic angel eine der interessantesten Kunstwerke der Hybridfotografie. In netropolis werden die großen Metropolen der Welt zu hyperrealen Raumschiffen, die von ihm erschaffene Realität wirkt beunruhigend und unheilvoll. Vieles von seiner Fotokunst erinnert stark an die Welt düsterer Matte-Painter, doch sind die Vorstellungen des Künstlers von unseren Zukünften wesentlich inhaltsvoller. Sein Video the singularity könnten die ersten Bilder aus einer anderen Galaxie sein, die die Erde erreichen. Unbedingt anschauen! Images: Michael Najjar (f)