Der Schlaf in den Uhren – Uwe Tellkamp

Schlaf der Uhren
F.Giebichenstein, ghost in the machine

Als ich mit dem Buch fertig war, viel mir seltsamerweise ein Wort von John Burnside ein: „Ich sah den Teufel in einer Tasse Fertigsuppe.“. Der Schlaf in den Uhren hatte dazu geführt, das ich wie die Hündin Laika in ihrem Sputnik 2 durch Treva flog und den Endgegner suchte. Seit Jahren lese ich nur noch sehr wenig zeitgenössische Literatur. Wie Heiner Müller sagte, das ihn Demokratie langweilte, so ist das bei mir mit der Gegenwartsliteratur. Viel Schund, zu politisch, zu aktivistisch und substanzlos. Es ist gruselig was da über die Tische des Buchhandels gereicht wird. Uwe Tellkamp ist anders, er ist ein mutiger Autor. Es ist zu vermuten, das die überwiegende Mehrheit der Leser nach wenigen Seiten die Segel streichen. Wer nicht ernsthaft fokussiert bleibt, der will nicht lesen. Das Buch ist vergleichbar mit einer Straßenschlägerei. Es gibt keinen Plan, aber wer sich nicht stellt wird verlieren. Aber jene, die sich eingraben und Welle für Welle überstehen, werden mit dem Genuss großartiger Literatur belohnt. Tellkamp ist ein erhabener Stilist, seine Sprache hat eine kybernetische Eleganz, man atmet und staunt. Diese Sprache bannte und verdammte mich zu wochenlanger Fertigsuppe. Bis ich das Labyrinth durchschritten hatte. Als interessierter Leser kann man sich keine Vorstellungen davon machen, wie schwierig es sein muss, zeitgenössische Themen in diese sprachlichen Weiten zu katapultieren. Die meisten werden aussteigen, konditioniert durch die lauwarme Häppchenkultur unserer Zeit. Literatur ist in Verruf geraten, vor allem solche, die als Großversuch der Deutung von Geschichte angelegt ist. So erging es den monströsen Großstadtromanen, der Lagerliteratur und vielen phantastischen Werken. Die Mühen der Ebene gehen heute nur noch wenige Leser, kurzweilig soll die Reise sein. Tellkamps Text ist ein solcher Großversuch, der sich unmöglich erklären lässt, so wie sich Ulysses von James Joyce, Manhattan Transfer von John Dos Passos nicht erklären lassen. Literatur als Zeitvertreib ist etwas für Denkfaule. Solche Stimmen behaupten auch, das es sich nicht lohnen würde Dostojewski zu lesen, bloß weil er zeilenweise beschreibt wie sich jemand den Staub von der Hutkrempe streift.

F.Giebichenstein, Im Bergwerk

Ist der Leser aber nicht nur geneigt, sondern weiß um die Hintergründe der Zeitdiagnostik darin, dann wird die Lektüre zu einem Ereignis, das sonst nur der Musik vorbehalten bleibt. Oberflächlich betrachtet kann man den Text als zeitkritischen Roman abtun, die historischen Abläufe und handelnden Personen sind schnell erkannt. Die literarische Größe dieses Textes bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Dieses tote Pferd peitschten viele Kritiker vor allem bundesrepublikanischer Herkunft, weil sie sich an der politischen Person Uwe Tellkamps störten, der mit offenem Visier seine legitimen Positionen vertrat. Dazu ist alles gesagt. Diese Form der üblen Nachrede scheiterte, weil Der Schlaf in den Uhren in seiner Sprache und Konzeption für sich steht. Die kolossale Virtuosität dieser Literatur übersteigt die profanen Niederungen der bestehenden Bekenntnisprosa des Zeitgeistes. Tellkamps Sprachkosmos weckt Erinnerungen an andere große Unternehmungen dieser Art. Es sind Assoziationen zu den Sprachwelten anderer Autoren. Beim Lesen dieser eigentümlichen Sprache kamen mir unzählige Gedanken zu anderen Werken in den Sinn. Da wären die Sprache Reinhard Jirgls in seinem Buch Nichts von euch auf Erden, ein ebenso kühner Wurf. Es schiene so, als würde Tellkamp mit seinen Sprachschöpfungen die Erinnerungen an alle schlummernden Sätze von Literatur im Gehirn des Lesers zu neuem Leben zu erwecken. Erinnerungen, die von Leser zu Leser variieren. Ich erinnerte mich an Heliopolis von Ernst Jünger, an Georg Orwells 1984, Brave New World von Aldous Huxley, an Jewgeni Samjatins Wir, an Geschichten von Ambrose Bierce und Celines Reise ans Ende der Nacht. Selbst Baron Wladimir Harkonnen aus Frank Herberts Der Wüstenplanet spukte vorbei. Wenn Tellkamp Worte wie Eisengallustinte oder Zeitarbeiterkollektiv benutzt, reagiert das Gehirn drüsig und schleudert Erinnerungstexturen wie knisterndes Popcorn. Hier entsteht, was der Lyriker Allen Ginsberg in einem Gedicht einmal die „Welten aus Bakterien“ nannte. Treva ist der Kosmos und hat viele Ableger, wo alle zum Lichte drängen und doch in der Dunkelheit leben. Das sind die Momente wo das lesende Säugetier innehält und das in der Welt sein für eine Nanosekunde ahnt. Alles was Tellkamp beschreibt ist in unseren Zellen und findet jeden Sekunde aufs Neue statt. Das ist es was Literatur leisten kann, deshalb verdanken wir ihr alles. Tellkamps Buch nachzuerzählen, rational in erkenntnistheoretische Kategorien einzuordnen, wird immer radikal scheitern. Sprache in dieser Versuchsanordnung lässt sich weder satteln noch bändigen. Der Weg nach Eleusis ist steinig, im Fall Der Schlaf in den Uhren hat es sich gelohnt. (fk)

Der Schlaf in den Uhren, Uwe Tellkamp
Suhrkamp Verlag, 904 Seiten
32 Euro

Vom Leben im Panoptikum

F.Giebichenstein, Panoptikum

Der Internetpionier Clifford Stoll verglich vor etlichen Jahren einmal den Versuch der sinnvollen Nutzung des Internet damit, als würde man versuchen aus einem aufgedrehten Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken. Ein frustranes Erlebnis. Das Internet Stolls ist heute zu dem geworden, was Paul Virilio vor mehr als drei Jahrzehnten als „digitale Kolonie“ beschrieb. Das Internet war und ist keine erbauliche Sphäre, sondern es hat sich zu einem Panoptikum entwickelt, das hauptsächlich der Überwachung und Kontrolle dient. Es ist zu der Erfahrungen geworden, die Walter Kempowski in seinem Buch Bloomsday ’97‘ über das Fernsehen beschrieb. Kempowski zappte damals 24 Stunden wahllos durch das lineare Fernsehprogramm. Was er sah war eine verheerende Bewusstseinstrübung, eine Reise in eine trostlos und geistlose Wirklichkeit. Das Internet hat das Fernsehen ersetzt. Wer heute leichtfertig eine App öffnet, begibt sich in eine lebensfremde Parallelwelt in der die Wahrheit permanent zu „Informationsstaub“ (Byung-Chul Han) zerfällt. Robusten Naturen wird es wie Adorno gehen. Er kam immer dümmer aus dem Kino als er reinging. Der Schaden blieb gering. Dem Rest der Nutzer blüht etwas anderes. Ihre Sinne werden einem ultimativen Stresstest ausgesetzt. Das Netz hat sich in eine monströse Dystopie verwandelt. Man hat schon nach wenigen Minuten begriffen, was der Schriftsteller Jonathan Frantzen meinte, als er feststellte, dass das Silicon Valley unentwegt Stupidität produziert. Längst sind die Claims abgesteckt, jetzt ist Erntezeit. Die Nutzer wurden zur fetten Beute einer eskalierten Datenindustrie. Alles, wovor besonnene Geister wie Joseph Weizenbaum gewarnt haben, ist heute längst übertroffen. Für Weizenbaum war es schon Dummheit, planlos im Netz unterwegs zu sein. Seine damalige Technikkritik wirkt angesichts der Entwicklung der Sozialen Medien wie aus der Zeit gefallen. Aus der „verwalteten Welt“ Adornos ist eine digitale Strafkolonie geworden. Aus dem Heilsversprechen von den guten und wahrhaften Informationen für alle ist ein datenfressender Optionenvernichter von Lebenszeit geworden. Diese digitale Strafkolonie ist zu dem geworden, was der spanische Autor Ortega y Gasset über die Massengesellschaft schrieb. Der digitale Raum ist die Kloake der Allzuvielen. Hierzu schaue man nur auf die jährlich veröffentlichten Hitlisten der Suchmaschinen. Konsumistische Predatoren sind auf der Jagd nach abscheulichen Sexualpraktiken, während die Aggregatoren und Realitätsdesigner dieser digitalen Industrie die Zersetzung des Gemeinwohls immer aggressiver und perfider vorantreiben. Der Besuch von Plattformen wie TikTok oder Instagram ist Entmenschlichung auf psychologisch hohem Niveau. Plattformen wie Twitch, OnlyMoves oder Chaturbate sind die Endgegner in den Dungeons der verwahrlosten Gesellschaft. Hier treffen sich Wegelagerei, Prostitution, Bettelei und Würdelosigkeit in beinahe erbarmungswürdiger Schlichtheit. Die Sprache ist schwere Kost. Ein Kauderwelsch aus Rap, radebrechenden „Kiezdeutsch“ und unterwürfigen Dummdeutsch, inhaltlich immer dürftig, ja erschreckend ahnungslos von jeglichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Nur wenige Streamer, Content Creatoren, Influencer und Youtuber gelangen an die Fleischtöpfe des Geldes, der Rest strandet in den digitalen Wüsten der Belanglosigkeit . Arm auch die Einfalt dieser Content Creatoren, die ihre inhaltsleeren Einlassungen zu Fragen der Kultur, Politik und Gesellschaft selbstreferenziell abfeiern. Doch am Horizont werden immer nur wieder die gleichen saturierten Texturen des Lebens sichtbar, die aus wehleidigem Sozialkitsch, Geld und Anmaßung bestehen. So wie alle Kunst nicht politisch sein muss, das Leben schon gar nicht, so gibt es kein richtiges Leben im Metaversum, auf Instagram oder Facebook. Hier muss man dem Scherz des schwatzhaften Philosophen Slavoj Žižek beipflichten. Er würde Mark Zuckerberg im GULAG einquartieren, ebenso wie den Philosophen Peter Sloterdijk, diesen jedoch nur als Koch. In den digitalen Strafkolonien der Milliardärssozialisten und Cyberbarone gibt es kein Gemeinwohl, sondern nur Gefangenschaft. Es sollten zu den Like- und Unlike-Buttons auch eine Delete oder Auslöschtaste geben, die diesen Tsunami an Zerstörung stoppt. Im Kern ist das System dieser verdrahteten Sphären nicht auf Gemeinschaft aufgebaut, sondern folgen schlichten Regeln der Vermarktung und Selbstausbeutung. Die Nutzer werden reduziert auf das dienstbare Personal einer imaginären Knechtschaft des Konsums. Freiwillig synchronisiert sich dieses Personal mit den Produktzyklen weltweiter Lieferketten. All die Auspacker, Berichterstatter und Warenfetischisten plündern im Stundentakt die neuesten Produkte der asiatischen Sweatshops. Diese weltweite Armee dampfender NPC-Maschinen (Non-Playable Character) sind der eigentliche Erfolg von BigTech. Alle Lebensbereiche sind inzwischen kontaminiert von diesem Gadgetporn. Immer raffiniertere Propaganda- und Manipulationstechniken erobern den digitalen Raum. Immersive Spielewelten und Künstliche Intelligenz werden zum Lebensersatz. Doch das transhumanistische Paradies ist nur Mummenschanz und Blendwerk. Die verdrahtete Welt ist eine kontrollierte Versuchsanordnung, alles wird gespeichert, protokolliert und ausgewertet. Unser Alltag wir durch „elektronische Signale“ kontrolliert (Zygmunt Bauman) und wir haben uns eingerichtet in diesem Panoptikum. „Glückliche Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.“ Dieser Satz stammt von der klugen Freifrau Marie Ebner von Eschenbach. Sie hat kein Insta, ist weder bei Meta noch Twitch und benutzt auch kein WhatsApp oder Youtube. Sie ist seit 1916 tot, aber ihr Satz wird länger strahlen als das Internet. (fk)

Infokratie, Byung-Chul Han
Die Wüste Internet, Clifford Stoll
Why Machines Will Never Rule the World
Landgrebe, Jobst, Smith, Barry

Alfred Ehrhardt – Vom Wesen der Natur

Erhardt
Alfred Ehrhardt

Alfred Ehrhardt war ein großer Meister der Bildkunst. Die Wirkung der Natur so eindringlich nahe zu bringen ist wenigen Fotografen gelungen. Doch Alfred Ehrhardt war mehr als Fotograf und Dokumentarfilmer. Sein vielschichtiges Werk ist Zeugnis eines herausragenden Künstlers. Der gebürtige Thüringer kannte die Welt und die Kunst. Zeit seines Lebens war er noch als Maler, Kunstdozent und Musiker tätig. Am Bauhaus begegnete er Künstlern wie Joseph Albers und Oskar Schlemmer. Von Kandinski ist bekannt, dass er die Arbeiten Ehrhardts sehr schätzte. Die Fotoserie Watt, ein Ergebnis seiner langen Fotowanderungen, sind im philosophischen Sinne naturalistische Meisterwerke. Von Walter Benjamin stammt der Irrtum, das die Neue Sachlichkeit nicht künstlerisch sei und und keine Imagination und Erkenntnis zuließe. Ehrhardts Watt-Bilder widerlegen diese These.

Watt

Der Betrachter sieht nicht nur Wasser, Sand und Licht, er sieht ebenfalls Formen, Kontraste, Linien und Zeichen. In vielen „sachlichen“ Bildern August Sanders findet sich ebenfalls dieser Zauber. Die Natur in ihrem schlichten Abbild erscheint bei Ehrhardt als riesige Projektionsfläche für die großen Zusammenhänge. Die Schönheit und Anmut des Planeten wird zur Sinnstiftung des in die Welt geworfenen Menschen. Das Drama der Sterblichkeit wird ersichtlich, die Natur existiert auch ohne Menschen. Das ist Kontemplation, das ist Selbstvergewisserung und Meditation zugleich. Mehr kann ein Künstler nicht erreichen und Alfred Ehrhardt hat viel erreicht. Von den lebenden Zeitgenossen hat ähnliches der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado erreicht. Sein Bildband Genesis hätte Alfred Ehrhardt begeistert. Beide haben verstanden, dass die Natur alles ist und ohne Natur alles nichts. (fk.)
Ausstellung in der Alfred Erhardt-Stiftung,
18. Januar bis 27. April 2014 Berlin
© alle Bilder: Alfred Erhardt-Stiftung

Fred Stein – Der freundliche Chronist

Einstein
Albert Einstein

Es gibt Fotografien, die jeder kennt. Das schwarz-weiße Portrait Einsteins ist so ein Bild. Eine kolossale Aufnahme, die zur Erinnerungstextur des 20. Jahrhunderts wurde. Fred Stein ist der Name des Fotografen. Die fotografischen Arbeiten des gebürtigen Dresdners sind ein großes Erbe und ein großer Schatz in der Geschichte der Fotografie. Stein kam auf tragische Weise zum Beruf des Fotografen. Der studierte Jurist durfte in Nazideutschland als Jude nicht promovieren. 1933 floh der Rabbinersohn mit seiner Frau aus Deutschland. Wesentliche Stationen seines Lebens waren Paris und später New York. Mit einer handelsüblichen Kleinbildkamera der Marke Leica und später einer Rolleiflex fotografierte Stein sein Jahrhundert. Der bekennende Sozialist kümmerte sich zeitlebens wenig um Fototechnik, Licht und Retusche.

Hannah Ahrendt
Hannah Ahrendt

Mennschen waren ihm wichtiger. Vornehmlich porträtierte er nur Menschen, die ihn berührten, sei es intellektuell oder künstlerisch. Neben Einstein hatte Stein viele Geistesgrößen seiner Zeit vor der Kamera: ob Hannah Arendt (Bild), Chagall, Miró, Dalí, die Dietrich, Martin Buber, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Arnold Zweig, Egon Erwin Kisch oder Willy Brandt, alle diese Portraits sind einzigartige Zeugnisse des letzten Jahrhunderts. Mit Brandt war Stein lebenslang befreundet und dieser hielt den Fotografen für einen „avantgardistischen und brillanten Fotografen“. Neben der Portraitfotografie war Stein auch ein leidenschaftlicher Straßenfotograf. Allerdings unterschied sich Steins Straßenfotografie von der heutigen Street Photography fundamental. Stein mochte Menschen und wollte die Fotografierten oft kennenlernen. Er war kein Jäger wie der Straßenfotograf Bruce Gilden, der zwar die Menschen auch mag, der aber seine Kamera als Waffe benutzt und Menschen regelrecht abschießt. Gildens künstlerische Egozentrik war Steins Sache nie. Stein war Sammler. Seine umfassende Sammlung ist erstmals im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Bilder: © Estate of Fred Stein (fk)

São Paulo – Stadt ohne Zukunft

Carlos Cazalis

Vom Soziologen Ulrich Beck stammt der Begriff der Brasilianisierung des Westens. Am Ende dieser Brasilianisierung steht die totale soziale Ungleichheit. Mit allen Konsequenzen für die zerfallenden Gesellschaften: Kriminalität, Armut und Zerfall. Was in Europa erst begonnen hat, ist in vielen Städten Lateinamerikas und auch in den USA längst Realität. Der mexikanische Fotograf Carlos Cazalis fotografierte jahrelang die brasilianische Stadt São Paulo. Die Stadt ist ein monströser Kosmos. Mit über zwanzig Millionen Einwohnern zählt sie zu den wirklichen Megacitys der Welt. Cazalis Bilder sind einzigartig. Sie zeigen uns weder einen postapokalyptischen Menschenzoo noch koloriert der Fotograf das alltägliche Elend dieser Megastadt voyeuristisch. Seine Bilder sind belichtete Soziologie. Sie erzählen von einer kapitalistischen Welt in der nur das Recht des Stärkeren zählt. Für immer mehr Bewohner in den Slums São Paulos wird das Leben zu einem permanenten Struggle for life.

São Paulo

Die sozialräumliche Polarisierung ist ein wahrer Alptraum. Den Slums stehen immer mehr Gated Communities gegenüber. Es entstehen militärisch überwachte Siedlungen für Wohlhabende. Während die Paranoia der Reichen der Sicherheitsindustrie immer neue Rekordumsätze beschert, nimmt die Zahl der Obdachlosen beständig zu. In Stadtvierteln wie Alphaville konzentriert sich obszöner Reichtum, doch abseits dieser Enklaven des Reichtums herrschen bittere Armut und Tristesse. All das steht Europa noch bevor. Bilder: © 2013 Carlos Cazalis/Kehrer Verlag (fk)

NARCO CULTURA – Krieg als Popkultur

Narco Cultura

Der mexikanische Fotograf Enrique Metinides fotografierte seine erste Leiche als kleiner Junge. Metinides fotojournalistische Arbeit aus mehr als dreißig Jahren sind harter Stoff: Katastrophen, Mord und Totschlag. Heute herrscht in einigen Gebieten Mexikos ein innerstaatlicher Krieg, den der Staat nicht mehr gewinnen kann. Gut organisierte und mit modernster Waffentechnik ausgerüstete Drogenkartelle haben das Land fest im Griff. Die paramilitärischen Einheiten der Kartelle sind in ihrer Brutalität unübertroffen. Tausende tote Polizisten und ca. 50 000 Opfer bis Ende 2011. Dieser innerstaatliche Krieg gehört in Mexiko und auch im Süden der USA mittlerweile zur Popkultur. Über diese Narco Cultura hat der israelische Fotograf Shaul Schwarz einen Dokumentarfilm gedreht. Schwarz war schon vorher als Fotograf mehrere Jahre in Mexiko und fotografierte den Drogenkrieg. Sein Film zeigt eine bizarre Wirklichkeit. Da singt trinkendes Partyvolk in einem Club:“Wir sind blutdurstig, durchgeknallt und lieben es zu morden.“ Eine Frau beweint ihren bei lebendigem Leib enthaupteten und zerstückelten Sohn. Doch wer hier denkt, die Welt sei aus den Fugen, der irrt. Nicht nur die Musiker der Narcocorridos verherrlichen diese Drogenkultur, auch große Teile der Menschen bewundern den Erfolg der Dealer und Schmuggler. Die Drogenkultur Mexikos erbringt mehr als die Sklaverei als Tagelöhner und ist zu einer Art Gegenkultur geworden. Diese eindeutige Lektion des freien Marktes hat in Mexiko der letzte Strauchdieb begriffen. Shaul Schwarz zeigt uns in drastischen Bildern, das Mord und Totschlag in der entsolidarisierten Gesellschaft auch nur zugespitzte Marktwirtschaft ist. (fk)

Jeder gegen Jeden! Rette sich wer kann!

EGO
Ego von Frank Schirrmacher

Die Botschaft des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher ist klar. Das gegenwärtige Wirtschaftssystem des Westens ist krank und wird am Ende nur Zerstörung und Verwüstung hinterlassen. Verschwörungstheorien oder Paranoia sind nicht Schirrmachers Sache, er hat lediglich ein enorm kluges Buch über die Entstehung des digitalen Finanzkapitalismus geschrieben. Das der Publizist ein feines Gespür für die relevanten Themen seiner Zeit hat, bewies er schon mit seinen Büchern über die Entwicklung der Demographie (Das Methusalem-Komplott) und die Zusammenhänge der Computerindustrie (Payback). EGODas Spiel des Lebens unterscheidet sich wohltuend von der inhaltsleeren Geschwätzigkeit vieler kapitalismuskritischer Texte der Gegenwart. Schirrmacher beherrscht die Recherche, er versteht die Materie und kann vor allem denken. Für Schirrmacher ist der gegenwärtige Informationskapitalismus das Resultat des Kalten Krieges. Die Spieltheorien des Kalten Krieges sind es, die die heutigen Grundlagen des spekulativen Kapitalismus darstellen. Algorithmen beherrschen das Leben der Menschen. Und dies nicht zu ihrem Wohl. Schirrmacher präsentiert Zusammenhänge die grundsätzliche Fragen aufwerfen. Wenn der Einzelne jegliche Autonomie verloren hat, so kann niemand mehr ernsthaft von einer demokratischen Gesellschaft reden. Angesichts solcher Schlussfolgerungen wirkt das öffentliche Gerede von der marktkonformen Demokratie obszön und zynisch. Wenn man Schirrmacher zu Ende denkt, dann wird der maschinengetriebene Egoismus in einem monströsen Niedergang enden. Jeder gegen Jeden, rette sich wer kann! Diese Botschaft wird den Mietmäulern und Propagandisten des Lumpenbürgertums nicht schmecken. Die Mythen der bürgerlichen Welt sind durch die freien Märkte entzaubert worden. Demokratie ist zum Bullshit-Bingo verkommen. (fk)

Der Mann aus Dodge City

Hopper
Double Standard, 1961 Location: Los Angeles, Ca USA 6.87 x 9.79 inch

Als Schauspieler bleibt Dennis Hopper unvergessen. Seine Auftritt als psychopathischer Frank Booth in David Lynchs Blue Velvet war große Darstellungskunst. Doch der Mann aus Dodge City war auch ein ebenso leidenschaftlicher wie ernsthafter Fotograf. Sein fotografischer Nachlass ist Teil jener berühmten amerikanischen Fotokunst, die das letzte Jahrhundert hervorgebracht hat. Hoppers Fotografien sind melancholische Schnappschüsse einer versunkenen Epoche voller Vitalität und Ekstase. Seine Portraits von Menschen und Orten kommen ohne Pathos und Schnörkel aus. Hopper glorifiziert nie, er dokumentiert lediglich. Eindrucksvoll ist Hopper immer dann, wenn er alltägliche Situationen festhielt. Fernab vom lärmenden Eskapismus seiner prominenten Zeitgenossen, kann Hopper auch ruhig. Ein sonderbar stoischer Charme findet sich in vielen seiner Bilder. Ob Stierkämpfe, Demonstrationen oder Friedhöfe, Hopper bleibt gelassen. Diese Gelassenheit ist es, die Hopper mit vielen Großen der amerikanischen Fotografie verbindet. Aber auch Schwermut kommt beim Betrachten der Bilder auf. Hoppers Amerika existiert nicht mehr. Der Rausch ist vorbei, die Musik verklungen und der Duke reitet nicht mehr. John Wayne ist tot, Dean Martin und Paul Newman ebenso, nur wenige der Abgebildeten leben noch. Niemand drückt mehr eine Patrone in den Lauf, der Hedonismus des amerikanischen Jahrhunderts ist untergegangen.

Im aufkommenden androiden Zeitalter der starren Maschinenmenschen zählen nur noch Effizienz und die Pornographie der Dinge. Hopper fotografierte in einer Welt, in der es noch schön war zu leben. Die nach ihm kommen, werden dieses Glück nicht mehr haben. (fk) © Bild: Double Standard, 1961 – The Dennis Hopper Art Trust – Ausstellung: Dennis HopperThe lost Album im Martin-Gropius-Bau, Berlin

Berlin – Gundula Schulze Eldowy

Gundula Schulze Eldowy

Gundula Schulze Eldowys Bilder sind Heimat. Ihre Fotografien gehören sicherlich zu den ergreifendsten und bedeutendsten Werken der deutschen Fotografiegeschichte. Ihre Bilderserien und Zyklen aus den Jahren 1971-1990 sind zivilisationskritische Meisterwerke von enormer Ausstrahlung. All ihren Bildern ist anzumerken, dass die Fotografin große Empathie für die portraitierten Menschen empfand. Das unterscheidet Gundula Schulze Eldowy wohltuend von der mit ihr oft verglichenen amerikanischen Kollegin Diane Arbus. Während die Arbus nach eigener Aussage “das Böse fotografieren” wollte um die Missratenheit der Welt zu beweisen, berichten die Bilder Gundula Schulze Eldowys sehr anrührend vom Leben und Sterben in einer geschlossenen Gesellschaft. Wir sehen Ost-Berlin, es ist eine öde, verlorene und versunkene Welt. Schonungslos, gar unerbittlich wirken ihre Bilder. überall das Drama der Sterblichkeit, überall in die Welt geworfene Menschen. Neben all dem Handwerk, jenseits von Konzeption und Gestaltung, hat die Künstlerin ein außerordentlich feines Gespür für den großen Augenblick. Das macht die Kraft ihrer Fotografie aus. Alle ihre Bilder haben Würde, weil die abgebildeten Menschen Würde haben. Über diesen Rubikon gehen nur große Fotografen. Ihre Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind im Sinne Walter Benjamins frei von jeglichem “kunstgewerblichen Einschlag”. Die Fotografin verdinglicht in ihren Bildern keinen tristen Lokalkolorit, auch ist die große politische Geste nicht ihre Sache. Das Schöpferische in ihren Bildern ist der ungelöste Konflikt vom Leben zwischen Vergeblichkeit und Wirklichkeit. Dieser Konflikt findet sich auch in den Bildern namhafter Kollegen der Fotografin, sei es bei Arno Fischer, Sibylle Bergemann, Helga Paris, Roger Melis und vielen anderen. Die Fotografin steht in der Tradition von Dorothea Lange, Lewis Wickes Hine und Margaret Bourke-White, allesamt sozialdokumentarische Meister, die in dieser Klasse in der zeitgenössischen Fotografie von heute rar sind. Das Berlin der Fotografin existiert nicht mehr, der Prenzlauer Berg ähnelt heute einer Shoppingmall. Verklungen sind die alten Lieder, das Terrain ist in den Händen anderer. Selten sind noch Fotografen wie Harald Hauswald anzutreffen, die einen neuen Film in die Kamera drücken. Dem Leipziger Lehmstedt Verlag ist mit dem Bildband Berlin in einer Hundenacht ein großartiges Stück Fotokunst gelungen, eine Ausstellung mit Fotos aus den Jahren 1977-1990 sind im C/O Berlin zu sehen. (fk)

Tittytainment und Blödmaschinen

Von der sympathischen Gutenberg-Galaxis Marshall McLuhans bis in die Medien-Kolonien der Dummheit war es eine kurze Reise. Am Ende dieser Entwicklung sind die Medien heute Blödmaschinen, die unentwegt Stupidität produzieren. Markus Metz und Georg Seeßlen ist es in ihrem Buch Blödmaschinen gelungen, die Codes ebendieser zu entschlüsseln. Für die Autoren reicht es nicht aus nur in das Lamento von der Zunahme der allgemeinen Verblödung einzustimmen. Die von Neil Postmann beklagte Infantilisierung der Gesellschaft findet zwar permanent statt, doch das eigentliche Problem an der Blödheit sehen die Autoren woanders. Für sie gilt: Blödheit ist Dummheit plus Benommenheit. Blödmaschinen können überall sein, sie sind ein exponentielles Phänomen. Die Medien, hier vor allem das Fernsehen, sind zur reinen Arschlochkultur verkommen. Volksverdummung ist zu einer prosperierenden Industrie geworden, Das Fernsehen, “dieses Medium der Schläfrigen“, wie Martin Walser das einmal nannte, dient nur noch der Idiotisierung und Alarmisierung der Massen. Selbst die durch Zwangsgebühren finanzierten „öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten(Georg Schramm) ARD und ZDF befinden sich im freien Fall. An der „emotionalen Pissrinne (Schramm) von Shows wie Kerner, Beckmann oder den unsäglichen Politikquasselrunden wie Anne Will, Maischberger oder Maybritt Illner wird die offene Gesellschaft nur simuliert und den Zuschauern Sand in die Augen gestreut. Das man in seichten Gewässern nicht untergehen kann, wußte schon der damalige RTL-Chef Thoma. Die dargebotene Obszönität, die unglaubliche Vulgarität und die sinnfreie Primitivität dieses Betäubungsfernsehens kennt keine Grenzen. Unentwegt werden die Sinne des Zuschauers mit immer geschmackloserem Bildermüll bombardiert. Täglich befeuern neue Formate und Sendeformen die kollektive Erregung. Jede noch so derbe Schrulle, jede noch so niedere Einfallslosigkeit wird gesendet. Dieses Asozialen-TV und Affekt- oder Unterschichtenfernsehen ist zu einer bizarren Manipulation unserer Alltagswirklichkeit herangewachsen. Die „universalisierte Geschmacklosigkeit“, wie das der Philosoph Nobert Bolz nennt, hat sich wie eine unheilbare Krankheit ausgebreitet. Auf allen Kanälen überwiegend Stumpfsinn, läppischer Pippifax und hirnloser Kokolores. Ernshaftigkeit wird verhöhnt, Inhalte negiert. Zwischen all den grenzdebilen Kochshows, sezierenden Pathologen und brutal werkelnden Heimwerkern gibt es keine Verschnaufpause. Die Autoren wissen das Medien nicht mehr Weinberge des Geistes sind, sondern Bergwerke der Dummheit. Neben den platten Wirklichkeiten der Fernsehwelt existieren noch andere Blödzonen. Soziale Netzwerke wie Facebook sind der Inbegriff epidemischer Dummheit. Facebook ist der Gulag eskapistischer „Mitteilungsinkontinenz(Botho Strauß), dort verstärkt sich die Dummheit in Form des „erbrochenen Alltags(Strauß). Der Medienkapitalismus hat eine überhitzte und orientierungslose Mediengesellschaft erschaffen, die ausschließlich auf Blödheit und Benommenheit abzielt. Die Verbreitung struktureller Blödheit ist politisch gewollt, denn das Hauptziel der weltweiten Tittytainment-Strategie ist die Unterdrückung der Massen durch Unterhaltung. Schon Seneca wußte, wer überall ist, ist nirgendwo. (fk)