Die totale Wirtschaft

Der Urvater der Volkswirtschaftslehre, Adam Smith, schrieb in seinem Werk Theorie der moralischen Empfindungen: „Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist“. Respekt und Wohlwollen für den Anderen hielt Smith für die Grundlage der Moral und den inneren Antrieb zur Arbeit. Seine Ideen vom Wohlstand der Nationen, die auch immer den Wohlstand des Einzelnen bedeutet, sind heute lange überholt und weltweit korrumpiert. Das elementare Heilversprechen der Wirtschaft, das durch die Verfolgung privater Wirtschaftsinteressen auch immer das Gemeinwohl profitiert, hat sich als Trugschluss und Zerrbild erwiesen. Heute gilt eher der Satz des bedeutenden Ökonomen John Maynard Keynes, der feststellte: „ Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.” Smith und Keynes sind lange tot, ihre Ideen ebenso. Als Moralphilosoph wäre Smith sicher entsetzt. Er sähe heute schlimme Dinge. Der digitale Finanzkapitalismus hat aus den Gesellschaften plutokratische Oligarchien werden lassen, die Kriege um Ressourcen und Märkte sind voll entbrannt. Der „Schock-Kapitalismus“ und sein „brutales Konzept“, wie die kanadische Autorin Naomi Klein das nennt, ist mittlerweile in jedem Dorf angekommen. Überall feiert der „Turbokapitalismus(Helmut Schmidt) Siegeszüge und teilt die westliche Welt sozialpolitisch nach dem Muster Bagdads in „grüne“ und „rote“ Zonen. Laut dem UNO-Bevölkerungsprogramm UNFPA wird es ab 2008 erstmals auf der Erde mehr Stadtbewohner als Landbewohner geben. Der „Planetarisierungsstress(Peter Sloterdijk) hat jede Hütte erreicht. Ob ethnische oder soziale Segregation in westlichen Metropolen oder die Verwerfungen in vielen Teilen der dritten Welt, all das sind nur Blaupausen für kommende Erschütterungen. Die Brasilianisierung des Westens, wie der Soziologe Ulrich Beck diese Umwälzungen nennt, schreitet unaufhörlich voran. „Es wird immer deutlicher: Weniger persönlicher Reichtum als vielmehr die Konzentration von finanzieller Verfügungsmacht und massenpsychologischer Einflussmacht in relativ wenigen Händen entwickelt sich zu einer ernsten Gefahr für eine offene Gesellschaft.“ So schrieb Helmut Schmidt schon im Jahr 2003 in seinem bemerkenswerten Essay “Das Gesetz des Dschungels“. Was Jeremy Rifkin den Hyperkapitalismus nennt, gehört heute unvermeidbar zur Lebenswirklichkeit der meisten Menschen. Die totale Ökonomisierung von Lebensraum und Lebenswirklichkeit ist zu einem Zustand der permanenten Mobilmachung geworden. Der aus dieser Mobilmachung resultierende „flexible Mensch(Richard Sennett) lebt in einer Welt der totalen Unrast und der steten Veränderung, Die Hochgeschwindigkeit dieses digitalen Kapitalismus verwüstet die bestehende Ordnung und ruiniert die Sozialgemeinschaft. Für die meisten Menschen in diesen modernen „Arbeit- und Unglückswelten (Sloterdijk) existiert nur noch Gegenwart. Es gibt keine planbare Zukunft mehr, das Kommende birgt unkalkulierbare Risiken. Dieser beschleunigte „Drift(Sennett) wird durch das „ungeduldige Kapital(Brennett Harrison) verursacht. Der wahnhafte Glaube an an die schnellen Renditen und die maßlose Gier nach Expansion stellt die Prinzipien unserer Gesellschaften in Frage. Der Dramatiker Heiner Müller bezweifelte schon vor Jahren, das wir in einer Demokratie leben. Die Bundesrepublik war für ihn eine Oligarchie, in der „Wenige von den Vielen“ leben. Für den Eliteforscher Michael Hartmann gehören die Mächtigen der Wirtschaft einer elitären und geschlossenen Gesellschaft an. Der Hyperkapitalismus hat Strukturen geschaffen, die unaufhörlich eine „militante Unterklasse von Ausgegrenzten und Aussteigern, die das Tempo nicht mithalten können oder wollen(Peter Glotz) produziert. Die „Kulturkämpfe um die richtige Lebensführung(Glotz) sind in vollem Gange. Kritiker und Gegner dieser Survival of the Fittest -Welt werden von den Apologeten des radikalen Marktes oft als Antikapitalisten und Kommunisten denunziert. Diesem Unsinn hat der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl mit seinem Essay Das Gespenst des Kapitals nun ein Ende bereitet. In seinem Text werden die Strukturen des kapitalistischen Denkens über die Jahrhunderte bis heute entzaubert. Eine wahre Tour de force durch die Geschichte der Ökonomie. An Ende wartet die Erkenntnis, das „totalisierter Wettbewerb zum Verfall von Gesellschaften führt“. Und der Alp wird nicht enden. (f)