Zeit und Tod

Schon der französische Soziologe und Philosoph Paul Virilio versuchte zu Beginn der Achtziger Jahre in zahlreichen Schriften die Bedeutung der Geschwindigkeit und deren Auswirkungen auf die modernen Gesellschaften zu erforschen. Was Virilo, der den Begriff der Dromologie erfand, später als Zustand des rasenden Stillstandes beschrieb, kann man heute als wesentlichen Bestandteil der Zeitforschung ansehen. Der Zeitforscher und Soziologe Hartmut Rosa hat in seinen Buch “BeschleunigungDie Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne” erstmals eine Zeittheorie entwickelt, die umfassend und plausibel erklärt, weshalb und warum die moderne, beschleunigte Gesellschaft zum Scheitern verurteilt ist. Rosa weiß, das wir “die Affen eines kalten Gottes(Marx) sind und daß das, was er Beschleunigung nennt, alles “Stehende und Ständische verdampfen (Marx) läßt. Der Wachstums- und Beschleunigungszwang des kollektiven Kapitalismus ist zu einer unabänderlichen Tatsache geworden, die zwanghaften Logiken des Marktes haben jegliche Ethik des Wirtschaftens ruiniert. Was Rosa “Akzelerationsdynamik” nennt, beschreibt die fatalen Folgen für das Leben in beschleunigten Gesellschaften. Die Raserei erreicht alle Bereiche des Lebens. Wirtschaft wird nach den Prinzipien der organisierten Kriminalität strukturiert, der soziale Kosmos erodiert und der stetig anwachsende Beschleunigungsdruck deformiert den Charakter der Menschen. Rosa weiß, das die Beschleunigung nicht zu bremsen und zu balancieren ist. Die Gesetze der Beschleunigung kennen keine Ordnung. Den Urtrieb der Beschleunigung sieht Rosa in der Angst des Menschen vor dem Tod. Die Panik vor diesem größten aller “Optionenvernichter” treibt den Menschen gnadenlos um. Alles Unheil dieser Welt resultiert aus dieser Panik. Um sich dieser Erkenntnis zu entziehen, schlüpft der Mensch in die Rolle des Spielers oder Drifters, ohne eigene Identität und dem Bestehenden hoffnungslos ausgeliefert. Wer nicht mitspielt wird schnell zum Exkludierten, zum Störfaktor. Was der Soziologe Jeremy Rifkin das proteische Bewußtsein nannte, wird in der beschleunigten Welt zum Status quo. Die proteische Persönlichkeit kennt keine Wahrheiten mehr, Empathie in jeglicher Form ist ihr zuwider, alles ist relativ und nichts ist wahr. Entwicklungen wie Hikikomori oder Cocooning sind nur der Prolog für das anbrechende Zeitalter des neuen Maschinen- und Ochsenmenschen, der unablässig an der eigenen Auslöschung arbeitet. Für Rosa ist der Abstieg unaufhaltsam, zu mächtig und gewaltig ist die Dynamik der Beschleunigung. Vom Dichter T.S. Eliot stammt der Gedanke, das die Welt nicht mit einem Knall endet, sondern mit einem Wimmern. Nach der Lektüre von Beschleunigung ist dieses Dichterwort zur Gewißheit geworden. (f)