Die Industrialisierung des Körpers

F. Giebichenstein

Vor fünfhundert Jahren begann mit dem ersten Versuch einer Bluttransfusion die kommerzielle Ausbeutung des menschlichen Körpers. Das dieser Versuch mit dem Tod aller Beteiligten endete, ist für den amerikanischen Wissenschaftskritiker Andrew Kimbrell nur ein vorausweisendes Symbol. Mit seinem Werk The Human BodyShop ist Kimbrell ein Kompendium über die Geschichte der Industrialisierung des Körpers gelungen. Seine medizinhistorischen Recherchen reichen von den ersten Transfusionstechniken bis zu den spätkapitalistischen Varianten einer völlig entgleisten Körperindustrie, die ausschließlich nach den Regeln prosperierender Märkte funktioniert. Kimbrell zeichnet nach, dass die einst humanistisch geprägte Intention von tabubrechenden Körperexperimenten in der Medizin heute einer mechanischen Auffassung des Lebens anheimgefallen ist, die in der Konsequenz aus Menschen Biomaschinen macht. Durch die rasanten Entwicklungen in den technischen Wissenschaften sind in den Laboratorien dieser Biofabriken möglich, die man mit der nuklearen Revolution in der Physik vergleichen kann. Der Körper ist zur Produktionsstätte geworden, die Einheit von Körper und Geist weicht einer Maschinenidee vom Leben, für die freier Wille nur Ausdünstungen der Materie sind. So ist es gleich, ob Gene patentiert, Zellen kopiert oder fetale Gewebe gezüchtet werden, denn längst bestimmt das Evangelium des Marktes das Handeln. Kimbrell macht deutlich, dass wir am Beginn einer wissenschaftlichen Biosklaverei stehen, an deren Ende Horrorszenarien einer posthumanen Eugenik und ein noch nie dagewesener Selektionsdruck stehen. Für ihn ist klar, dass sich Tendenzen wie der internationale Organhandel ohne kategorische Einflussnahme nicht mehr kontrollieren lassen werden. Spätestens an diesem Punkt gleichen die Aussagen Kimbrills den Gedanken des Philosophen Paul Virilio. Doch geht Virilio in seiner Analyse einen Schritt weiter. Er sieht hier evolutionäre Kräfte wirksam werden. Schon seine Theorien über die multimedialenKriege in Echtzeit, seine Schlussfolgerungen über das dromologische Dasein im postindustriellen Zeitalter, vermitteln eine Ahnung von den letzten Transformationen des menschlichen Bewusstseins. Virilio weiß, dass nach der vollständigen Urbanisierung des Planeten und der damit verbundenen Globalisierung der Informationsnetzwerke eine Epoche der radikalen Kolonialisierung des Körpers begonnen hat. Wurden bisher in der Zeit der Höchstgeschwindigkeiten nur unsere Wahrnehmungen abgekoppelt von dem was unser Sinnesapparat überhaupt verarbeiten kann, so kommt für jetzt noch der allmähliche Verlust des Körpers hinzu. Dieser Verlust bedeutet für Virilio nur den Auftakt für die letzte Revolution der Geschwindigkeit, die der Transplantationstechnik. Er sieht in der prothetischen Chirurgie, den biochemischen Manipulationen der Gentechnik und der modernen Mikrophysik eine allumfassende Veränderung der gesellschaftlichen Ethik. Es werden hier perfekte Technologien der Virtualität angewandt, die den Code für das automatische Verschwinden des Realen und somit der Welt in sich tragen. Der Mensch ist sozusagen überfällig, zum Opfer seines hybriden Fortschrittsglaubens geworden. Individualität, persönliche Ich-Erfahrungen und die Kommunikation der Menschen, werden in ein sinnentleertes, elektrisches Alphabet verflüssigt. Langsam aber stetig werden wir zu den Apparaten, die wir benutzen: an Stelle von Kultur und Imagination tritt ein stoisches Vegetieren in der vielfachen Einsamkeit. Der Körper ist nur noch eine intraorganische Benutzeroberfläche für die Pharmasoldaten und Realitätsdesigner des angebrochenen Siliziumzeitalters. Virilio seziert diesen Zustand nach dem rasenden Stillstand, er beschreibt ähnlich wie Kimbrell einen Laborgrusel, der nicht haltmachen wird vor der Auslöschung des politischen und metaphysischen Daseins des Menschen. Unsere Seele wird zur Beute von Mikroprozessoren, unsere Sehnsüchte und Begierden verlieren sich in den verinnerlichten Komponenten einer kalten Bioethik. Virilio sieht dahinter die Wahnidee, den menschlichen Körper an das Zeitalter der absoluten Geschwindigkeit elektromagnetischen Wellen anzugleichen. Der Körper soll im Gleichklang mit der Maschine vibrieren, der Mensch tritt in die vernichtende Realität der Beschleunigung. Aber Virilio sieht auch den politischen Horror dieser Ausdehnung. Das überreizte Wesen verlässt den Informationshighway in eine Art Knechtschaft der Effizienz; nur noch das anpasste, überrüstete Gesunde wird sich behaupten können. Hier hat die Technosphäre über die Biosphäre gesiegt: wir leben nicht mehr im Zentrum der Ereignisse, sondern an der Peripherie der Wahrnehmungen. Auswirkungen dieser Misere sind heute schon sichtbar. Es entstehen immer schneller und effektiver Produkte für eine leere und wertfreie Prothesenwelt, die nur noch durch ihre Namen an ihren Ursprung erinnern Die modernen Arbeitswelten sind durchdrungen von dienstbar gemachten sozialen Verhaltensweisen, die sich auf rein funktionale Affekte stützen. Virilio lesen bedeutet, die Nervosität der Jahrtausendwende zu empfinden. Seine Texte sind erkenntnistheoretische Collagen, die uns von einer somnambulen Zukunft berichten.(f.)

Andrew Kimbrell: Ersatzteillager Mensch. Übersetzt von Thomas Steiner.
Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Übersetzt von Bernd Wilczek